Friday, June 09, 2023

Rot war, rot ist, rot wird ewig sein.


 


Die Roten erobern Dornbirn. Foto: (c) MG Wanko



Ein Finale ist etwas Geiles, eine Meisterschaft, die sich im letzten Spiel entscheidet, ist das Geilste überhaupt. Unser Run auf Dornbirn (Dorabira) war eine große Sache. Der stellt vom letzten Meisterschaftsspiel im Meisterjahr gegen die Amira 2003/04 über alle Fast-Aufstiege bis zu allen Aufstiegen alles in den Schatten. Vor allem, es ging, trotz aller Begeisterung, ziemlich friedlich ab. Die Vberger haben mit uns auch eine ziemliche Hetz gehabt und umgekehrt. Dank an die roten Organisatoren! 

 

Weil es so ist.

 

Und dann das?! „Wie kann man nur gegen so etwas nicht gewinnen?!“, könnte ich jetzt gschissen sagen, mache ich aber nicht. Zu Hause, einige Tage vor dem Kick, habe ich jedem gesagt, wir werden nach 30 Minuten 2:0 führen und die Sache wird dann anständig runtergespielt. Aber der Ball ist eben rund, ein Spiel dauert 90 Minuten und der Rasen hat so seine Eigenheiten. Darum kommt oft alles anderes als man denkt aber darum ist Fußball auch der Sport der Welt. Also hat’s uns dieses Mal erwischt. Nicht nur dieses Mal, ich weiß schon, „uns mag niemand ...“, aber: Das klingt jetzt momentan ziemlich locker, war es die ersten Tage nach dem Nichtaufstieg überhaupt nicht. Ich bin nach dem Kick sogar zum Grab meines Vaters in Lochau bei Bregenz und habe gefragt „Warum?“ und gewartet. Ich habe keine Antwort bekommen, also habe ich sie mir selbst gegeben. „Weil es so ist.“ 


WE ARE ... 

 

Um ehrlich zu sein, hat es jetzt wenig Sinn zu raunzen. Es wird immer ein Spiel geben, das man besser machen hätte können, jeder hat hier seinen „Favoriten“ im Schädel, ich bin mir sicher, auch die Spieler. Aber es hätten auch andere Spiele nicht so gut ausgehen können.  Wir haben einen geilen Frühling hingelegt, eine geile Werbung für uns gemacht, und auf das müssen wir stolz sein. Es wird endlich an der Zeit Stolz zu entwickeln, bzw. zu verinnerlichen. WE ARE GAK! Oft gesungen, aber nicht immer in alle Körper übergegangen. WE ARE GAK! Das hat einen tieferen Sinn, nämlich wir sind es wirklich. Rot war, rot ist, rot wird sein. Mit viel Blut, Tränen und Zorn, aber auch mit Glück, Lachen und Wunder. Rot wird sein, es wird immer sein, es wird ewig sein. Und es wird von uns, so wie wir es bekommen haben, auch übergeben, seit 1902. Und gerade dann, wenn man in Tagen wie diesen, in der Nacht aufwacht und sich denkt, es sei alles normal, also wenn man quasi an nix denkt und plötzlich fährt das „Warum?“ wieder ein, und dieses letzte Spiel beginnt wieder im Zeitraffer, muss man sagen, „Weil es so ist.“


Nur nicht leisetreten!

 

Fußball ist und bleibt Leidenstraining. Sogar in höheren Sphären, an die ich jetzt gar nicht denken mag. Wo kein Leiden, keine Freude. Übrigens, je höher die Sphäre, desto mehr Scheiße ist unterwegs. Werden wir noch früh genug sehen. Zum Wunschkonzert für das nächste Jahr: Ich erwarte mir, oder ich hätte ganz gerne, dass alle Saisonkarten erneuert und alle Mitgliedsbeiträge bezahlt werden. Die eine Saisonkarte schon haben sollten Mitglied werden und umgekehrt. Dafür würde ich mir z.B. 10% Rabatt im Merch erwarten, nur so eine Idee. Dazu einmal einen roten und weißen GAK-Wein im Verkauf anbieten, ich sag ja nur, gibt ja immer Möglichkeiten. Aber, wir müssen lernen zu akzeptieren, dass alles so seine Zeit dauert. Der Fan hat immer recht, klar, aber er sollte auch das Hirn zum recht haben nützen, sowie der Kicker das Hirn zum Tore schießen oder verhindern nützen sollte. Meine Frau meint übrigens ich goscher schon wieder ziemlich viel, also geht’s eh schon wieder. Wird so sein. 

 

Zum Wunschkonzert für die Verantwortlichen: Raubt die Banken aus, zapft Benzin ab und baut Kraftwerke. Spaß bei Seite: Eine geile Mannschaft, den Mitteln entsprechend, aber Hauptsache Mut. So ganz frei nach der Johanna Dohnal: „Aus taktischen Gründen leise zu treten, hat sich noch immer als Fehler erwiesen.“ 

 

Per sempre rosso.

 

Wa.

 

 

 

 

 

 

 



Wednesday, October 19, 2022

Gedanken zum Derby.


 



Nach 15 Jahren sehen wir uns wieder. Es wird ein Derby, das im Vorfeld und im Nachfeld schwierig werden könnte, das ist der Charakter eines Derbys, sonst wäre es auch kein Derby. Die Sau lachte ja auch schon von der Autobahnbrücke, im Balkan zwischen München und Mexiko passiert das eben. Ich habe da jetzt einmal keine Vorurteile gegen alle schwarzen Seelen, witzig ist es trotzdem nicht, aber die Arschkarte bezüglich des „radikalen Anhangs“ ist jetzt einmal nicht bei den Roten. 

Und heute: Irgendwo wird es krachen. Da es aber auf der ganzen Welt kracht, könnten wir unser Krachen durchaus sein lassen, aber wenn es tscheppert, dann tscheppert es halt. Jo mei! Das wird an diesem Abend so gewollt sein, im LKH wird man darauf eingerichtet sein. 

 

Nach all den seltsamen Anfreundungen in den Medien in den letzten Tagen, in denen man Rote und Schwarze fast schon als sonderbare Habschis gegenüberstellte, muss man sich fragen, warum? Menschen lernen sich in den unmöglichsten Situationen kennen und schätzen. Das hat aber selten etwas mit Fußball zu tun. Der Scharm des Derbys liegt in der Rivalität und der Abneigung des Gegners und bittte und gerne auch Hasss des Gegners, absichtlich hier mehrfach betont. 

Ich finde es nach wie vor legitim, dass wir uns nicht mögen. Warum sollten sich Rote und Schwarze tatsächlich mögen? Da kann man durchaus von einer berechtigten Ablehnung sprechen, sie ist von beiden Seiten legitim und durchaus menschlich. Irgendwo müssen diese Gefühle auch hin, Samuel Beckett meinte zum Beispiel, dass Sport eine Ersatzhandlung für Krieg sei, wäre global sicher sinnvoll, hat aber mit uns kleinen Derby-Wutzis nix zu tun. Wir hauen uns einfach den Schädel ein. Bezüglich der Vereinsleidenschaft hassen wir uns. Warum sollte man auch alle und alles mögen. Feindschaft bindet ;)


per sempre rosso - red party will never die. 

 

Wa. 


Wednesday, April 06, 2022

Musik ist hart, Jugend ist härter.

 




Stewart O’Nan schließt bei seinen Anfängen an und begleitet seine jugendlichen Protagnisten in eine Katastrophe, in dieser Katastrophe haben sie sicher auch die zweite Buchvorstellung akustisch laufen lassen, The Clash. 

 

Die New-England-Staaten in den USA sind vor allem für ihre einladenden Küstenlandschaften, für Ferienhäuser gut situierter New Yorker Familien, für ihre Lobster, für Segelbote und gelegentlich auch für Bestseller bekannt. Stephen Kings „Es“ spielt beispielsweise in einer fiktiven Kleinstadt in Main mit bunten Häusern, in den 1950er-Jahren. Gute 70 Jahre später legt nun Stewart O’Nan seinen Roman „Ocean State“ vor, spielt in Westerly, einer unbedeutenden Küstenstadt der Neuengland-Staaten. Aus diesem Sumpf läuft man fort und macht Karriere, wie in „Es“, oder man verschläft den Absprung und muss sich so durchs Leben schlagen, wie in „Ocean State.“ 

O’Nans Protagonisten sind zum Großteil jung und fristen ihr Leben. Wenn man als Leser nicht wissen würde, dass die Story in einer Katastrophe mündet - ein Mädchen tötet ein anders aufgrund eines Beziehungsstreits - wäre es eher eine soziologische Bestandaufnahme. Doch so weiß der Leser, wohin die Reise geht und Stewart O’Nan erzeugt einmal mehr einen unheimlichen Sog. 

 

Schrittweise in die Katastrophe 


Im Grunde ist es eine Rückkehr zu seinem zentralen Werk: Für „Engel im Schnee“ bekam er 1993 den William-Falkner-Preis und es folgten darauf die Romane „Die Speed Queen“ und „Halloween“, mit einem überstrahlenden Leitthema: Junge Menschen, die nicht mit ihrem Leben klarkommen. Sie leben ein Leben zwischen Depression und Sehnsucht, doch bleibt der Autor im seriösen Bereich, ganz ohne Sozialporno begleitet er seine Charaktere auf den Weg in die Katastrophe, wie ein Analytiker, der nicht eingreift, sondern berichtet. Als wären seine Figuren in einer Art Dämmerzustand, sind sie unterschwellig von einem strengen Calvinismus gelenkt. Die Menschen gehen - fast schon provozierend freiwillig - in ihr „gottgewolltes“ Unglück und keiner kann sie davor abhalten. Der Sog wird zum einen durch das drohende Unglück erzeugt, zum anderen durch den klugen Mix an verteilten Rollen, in denen die Geschichte vorangetrieben wird. Einen Unterschied zu den Vorgängern gibt es, die Story wird ausnahmslos aus der Sicht der Frauen in dem Roman erzählt: Birdy und Angel rittern um Myles, dem jungen Mann mit dem prächtigen Haus am Meer, während Angels Mutter durchs Leben stolpert und die jüngere Schwester Marie ist mehr oder minder die Chronistin der Ereignisse. Daraus entwickelt sich ein spannender Roman ins Verderben. 

 

Eine Band mit Biss 


Biographien sind eine schwierige Angelegenheit. Entweder loben sie den Beschriebenen über den grünen Klee oder sie vernichten ihn. Interessant ist, wenn sich aus einer Biographie ein spannendes Zeitdokument entwickelt: Nach Jahren neu aufgelegt wurde „The Clash“, das offizielle Bandbuch einer der wichtigsten Punkrocker der 1970er-Jahre. The Clash waren eine Art Farbklecks in einer ziemlich grauen Zeit. Sie waren Kunststudenten, die ihr Studium abbrachen, um Musik zu machen und mussten unter andrem illustren Jobs nachgehen, wie verdächtige Briefsendungen zu öffnen, in denen IRA-Briefbomben vermutet wurden. 

Sehr cool ist, dass die damaligen Musiker das ganze Buch hindurch ihre subjektive Sicht der Dinge erzählen, über die Band, über Erfolg und Misserfolg aber auch über die Zeit, die langsam zu der bunten, fast sorglosen Zeit der 1980er-Jahre abhob. Die Dialoge sind gut montiert, sodass ein fast natürlicher Drive entsteht. Das alles kommt jetzt aber ohne Eigenlob aus, bringt hingegen immer wieder spannende Details ans Tageslicht. Man darf nicht vergessen, die Band spielte 1976 in unsäglichen Hinterzimmern und wurde mit Dosen und Flaschen beworfen, aber die Jungs hielten zusammen. Acht Jahre später füllte man Footballstadien in den USA und war heillos zerstritten. Das Buch endet mit der Trennung der Band. Um sich selbst zu finden, ging der Leadsänger und Gitarrist Joe Strummer wieder in Fußgängerzonen in nordenglische Städte und spielte einfach darauf los. Das hat durchaus Stil. 

 

(c) Vorarlberger Nachrichten / Martin G. Wanko 

 

Stewart O’Nan: „Ocean State“, 253 Seiten, Rowohlt.

The Clash – Das offizielle Bandbuch, 408 Seiten, Heyne Verlag. 

Monday, February 07, 2022

Da gab es schon viel Schlimmeres!


 

Kathleen Kent hat mit „Die Toten mit der roten Strähne“ ihren ersten Thriller verfasst. In ihrem literarischen Vorleben schrieb sie historische Schinken. Ob das gut geht?

 

Die US-Autorin Kathleen Kent hat eine rege literarische Vergangenheit, sie schrieb Romane, die es jedes Jahr als Kiloware angeboten werden und durchaus ihr Publikum finden. Ihre historischen Romane mit Schall und Rauch und viel Getöse eignen sich wunderbar für Nachmittage im Schwimmbad oder für langwierige Zugfahrten. Kents Romane laufen unter verheißungsvollen Titeln wie „Die Tochter der Ketzerin“, „Die Ausgestoßenen“ oder „Die Frau des Verräters“. Mit Themen wie die Hexenjagd und das Aufgebehren gegen das Patriarchat schafft es die Autorin zu Büchern, die global gesehen sicher zu Bestseller wurden. Okay, es ist kein zweites „Vom Winde verweht“ dabei, aber im Land der unbegrenzten Auflagen ist „der Bestseller“ wesentlicher als alles andere. Dann war einige Jahre Funkstille, warum auch immer, und nun wartet die Autorin mit ihrem ersten Thriller namens „Die Tote mit der Roten Strähne“ - immerhin im deutschen Qualitätsverlag - auf. Die Frage drängt sich auf: Was kann das Werk?

 

Gut gebaut ist halb gewonnen

Die Antwort in sechs Wörtern: Da gab es schon viel Schlimmeres! Hauptcharakter Detective Betty Rhyzyk kommt aus einer polnischen Polizisten-Familie, der Blutzoll ist in der Familie nicht zu übersehen, aber Betty hält eisern die Fahnen hoch und ist im Drogendezernat in einer No Name City in Texas, nahe der Grenze zu Mexiko, stationiert, dazu ist sie lesbisch und wirkt auf Männer anziehend. Im Grunde hätte die Hälfte an Eigenschaften für den Roman gereicht, aber die Autorin hat vermutlich gleich bei der Konzeption des Erstlings an diverse Fortsetzungen gedacht, da zahlt sich eine große Menge an Erscheinungsmerkmalen schon aus. Detective Betty Rhyzyk kämpft auf alle Fälle heroisch für das Recht aller Unterdrückten, das Training dazu dürfte sie in ihren historischen Romanen absolviert haben. 

Trotz gewisser literarischer Vorbehalte ist der Thriller inhaltlich gut gebaut. Hier wird Tempo gemacht, jetzt nicht auf Teufel komm raus, aber es kommen doch immer Schüsse aus Ecken, wo man sie nicht vermutet. Psychopathen, historische, nachgespielte Schlachten, missglückte Beschattungen, rechte Nachbarn und eine quasi sich in die Fortsetzung schwindelnde Täterin ergeben in Summe einen Themenwald, wo die Autorin gekonnt hindurchgaloppiert. Der Einfluss der Streaming-Dienste wird hier spürbar, und gut möglich, dass der Roman auch schon in seriengerechte Happen zerteilt wird, zumindest liegen in den USA bereits zwei Fortsetzungen im Buchhandel auf. Vielleicht lässt man nach der Lektüre den Roman auch im Strandcafé liegen, aber zumindest fertiggelesen hat man ihn. 

 

Mord, oder nicht Mord

Aus der Boulevard-Presse kennt man solche Geschichten: Drei Frauen und ein Mann leben zurückgezogen in einem Haus, schön verankert in einem Wohnbezirk. Die vier Bewohner sieht man eher selten, sind aber jetzt auch nicht auffällig. Plötzlich stehen vor dem Haus am frühen Morgen einige Einsatzfahrzeuge mit Blaulicht und auf einer Bahre wird eine der Frauen herausgetragen, die sich scheinbar zu Tode gehungert hat. Sehr schnell wird klar, dass sich zur Tatzeit die Insassen in einer glaubensbedingten psychischen Ausnahmesituation befanden. Schon bald fällt der Groschen: War das nun Mord an der schwächsten Persönlichkeit, fahrlässige Tötung oder doch der freie Wille zu sterben. Dazu spielt der Roman in den Niederlanden, wo dieses Thema freizügiger gehandhabt wird. Die Autorin Gerda Blees macht es sich in „Wir sind das Licht“ nicht leicht, hält gekonnt ihre Meinung zurück und lässt die anderen erzählen, auch die Häuser und ein Stück Brot dürfen an der Story mitwirken. Ob es diesen Kunstgriff braucht, ist fraglich, aber Gerda Blees Roman hat gefühlt etwas mit dem „Tatortreiniger“ im TV zu tun, durchaus unterhaltsam, doch mit ernstem Hintergrund: Wenn nichts passiert wäre, hätte die Reinigung auch nicht kommen müssen. 

 

© VN / Martin G. Wanko

 

Kathleen Kent: „Die Toten mit der roten Strähne“, 361 Seiten, Suhrkamp.

Gerda Blees: „Wir sind das Licht“, 239 Seiten, Zsolnay

Sunday, January 16, 2022

Über verrückte Spieler, einem wütenden Bauer und dem guten Bobo





Jonathan Lethem, der verrückte Autor mit Stil, legt mit „Anatomie eines Spielers“ seinen neuen Roman vor.

 

Seine Brooklyn Romane „Motherless Brooklyn“ und „Die Festung der Einsamkeit“ machten den Autor zum Fixstern im Himmel der verwegeneren Literatur, die jedoch durch ihre Hollywood-Verfilmungen mehrheitsfähig wurde. Mit der „Anatomie eines Spielers“ legt er, unschwer zu erraten, einen Roman über einen Spieler hin. Alexander Bruno ist Berufsspieler. Er verdient sein Geld damit, indem er ambitionierte Amateure ausnimmt. Sein Leben funktioniert wie die ersten Minuten eines James Bond Film der 1980er-Jahre. Das Leben ist glamourös, Sorgen hat man morgen, wenn überhaupt. Dahinter steckt ein System, Edgar Falk finanziert die Spiele vor, treibt danach bei den Schuldnern das Geld ein und behält sich seinen Anteil. Bruno kann weltweit gebucht werden und ist nicht unelegant im Spielerparadies Singapur stationiert. Sein Spiel ist übrigens das Brettspiel Backgammon. Das geht so lange gut, bis Bruno, als schwarzen Fleck in seiner Iris, einen Gehirntumor wahrnimmt und parallel dazu seine Glückssträhne verliert. Zugleich ist das der Zeitpunkt, wo Autor Jonathan Lethem zur Höchstform findet. 

 

Die Rückkehr des Frankenstein 

In atemberaubender Geschwindigkeit schickt er seinen Protagonisten nach Berlin, von dort weiter nach San Francisco, genauer in die Universitätsstadt Berkeley, um sich von einem umstrittenen Chirurgen, Noah Behringer, operieren zu lassen: Um an den Tumor zu kommen, bohrt er kein Loch in den Schädel, sondern schneidet ihn frontal auf. Danach soll ein langsamer Heilungsprozess vonstatten gehen und den Eingriff unsichtbar machen – wenn alles gutgeht. Willkommen im Spiel um das Leben oder bei Mary Shelleys Frankenstein. Finanziert wird die Operation von einem alten Freund aus Berkeley, der durch Immobilienspekulationen und dem Hochziehen einer wüsten Unterhaltungs- und Restaurantkultur sich in der Universitätsstadt nicht nur Freunde macht. 

Ein typischer Super-GAU für Lethem, der ein wertbefreites Amerika durch den Schredder jagt. Als Galionsfigur sieht man den erkrankten Spieler sich durchs Leben zu kämpfen. Fein säuberlich verknüpft er seine Angelpunkte und lässt das Spiel fast wie von selbst vonstattengehen. Einzig schade, dass der Funken nicht immer zum Leser überspringt. Elendslange Spielpassagen sind nichts für die Literatur. Und, nicht zuletzt fehlt es Bruno Alexander an einem höheren Ziel. Muss man nicht haben, klar, aber wenn die Struktur des Romans ein Ziel verlangt, sollte eines kommen. Fazit: An sich eine interessante, ausbaufähige Trockenschwimmübung, mal schauen was passiert, wenn die Drehbuchautoren sich über das Werk hermachen und die Schleusen öffnen.

 

Die Identität am Berg

„Bauer und Bobo“, das klingt so ähnlich wie „Bauer sucht Frau“, ist aber nichts dergleichen. Zur Begriffserklärung: Ein Bobo ist eine urbane Person, die für das Gute steht und den Genüssen dieser Welt, solange bio-zertifiziert, nicht abgeneigt ist. Zum Buch: Als Bauer fungiert der „Wutbauer“ Christian Bachler und als Bobo, der Falter-Chefredakteur Florian Klenk, der die Reportage auch verfasste. Nach einem Vorgeplänkel lernte Klenk Bachlers Hof in den steirischen Bergen persönlich kennen und schätzen. Kurz später war der Bauer am finanziellen Abgrund, Florian Klenk setzte seine Kontakte ein, ein Wirtschaftsplan wurde erstellt und in einem sagenhaften Crowdfunding wurde in kurzer Zeit rund eine halbe Million Euro aufgestellt – so viel einmal zum wahrgewordenen Märchen, das dieser Reportage zu Grunde liegt. Liest man zwischen den Zeilen, werden alte Mitterer-Dramen äußerst aktuell, Axel Corti-Verfilmungen nach wie vor gültig und die Franz Innerhofer-Romane noch immer lesenswert. Da sieht man wieder die Herren in feinem Zwirn am Hof stehen, um technokratisch über Schicksale zu bestimmen. Einmal wird Weidefläche, dann bloß das Vieh gefördert und zum Zurückzahlen ist allemal was. Fazit: Nicht jeden Tag Fleisch essen und dann bewusst etwas mehr zahlen. Immerhin isst man Nahrung, die einem noch kurz vorhin angeschaut hätte. Das könnte man sich im neuen Jahr vornehmen.

 

Vorarlberger Nachrichten - Martin G. Wanko

 

Jonathan Lethem: „Anatomie eines Spielers“, 393 Seiten, Tropen Verlag

Florian Klenk: „Bauer und Bobo“, 155 Seiten, Zsolnay 

 

Wednesday, December 29, 2021

Back in the DDR!


 


Georg Baselitz füllt noch immer die Museen, jetzt werden seine Anfangsjahre literarisch gedeutet. 

 

Mit „Raumfahrer” legt der junge deutscher Autor Lukas Rietzschel seinen zweiten Roman vor. Der Maler Georg Baselitz, oder genauer gesagt Baselitz durch die Welt um ihn herum zu erklären, ist das Thema des Romans. Im Detail geht es um den unbekannten Bruder des Künstlers, um Günter, der im Gegensatz zu seinem berühmten Bruder, in der DDR zurückblieb, nicht wegkonnte oder zumindest nicht wollte, während sein Bruder ins chaotische West-Berlin der Nachkriegsjahre hineintauchte. 

 

Im Dickicht der DDR

Hinzu kommt, dass die erzählende Figur, ein Junge namens Jan, plötzlich mit einem Schwall von festgehaltenen Erinnerungen konfrontiert wird, die der längst verstorbene Günter für ihn hinterlassen haben soll, mit der Bitte das Konvolut zu lesen. Als Vermittler gilt der an den Rollstuhl gefesselte Sohn des Baselitz-Bruders, der im Familiennamen noch Kern heißt, wie der Künstler eben auch, bevor er sich als Künstlername den Namen seines Geburtsortes aneignete: Baselitz. Hier fängt eigentlich die Geschichte an, gepaart mit starken literarischen Bildern, die in Beziehung zu weltberühmten Baselitz-Bildern stehen. 

Einen nicht unwesentlichen Punkt scheinen auch Jans Eltern zu spielen, vor allem die schon verstorbene Mutter und so ist es auch eine Reise in die DDR, zurück in die andere deutsche Geschichte nach dem 2. Weltkrieg. Genauer in die Dresdner Vorortlandschaft, dem Plattenbau-Dorado oder der Plattenbau-Hölle, je nachdem, von welchem Blickwinkel aus man die vielseitige Geschichte lesen mag. Lukas Rietzschel gräbt sich also durch die jüngere deutsche Vergangenheit und kommt in der Gegenwart raus. Aber der Blick ist doch eher auf die alte DDR gerichtet, als man eben dort an eine alternative Zukunft glaubte, von der heute sehr oft nicht einmal mehr Erinnerungen existieren würden, würden sich nicht Künstler um das „Ephesus aus Beton” kümmern. Baselitz darf bereits zu Lebzeiten wiederentdeckt werden, zumindest literarisch.

 

Ein schwedischer Klassiker 

Henning Mankell sollte wiederentdeckt werden. Mankell war ja einer der wesentlichen Autoren, wenn nicht der wesentlichste, der den Krimi aus dem Norden Europas auf eigene Beine stellte. Der Sog seiner Wallander-Krimis war so stark, dass sich daraus ein ganzes Genre entwickelte, das in Europa nach wie vor den Markt beherrscht: Skandinavische Kühle und Gelassenheit sind vordergründig, relativ viel unberührte nordische Landschaft, sozialkritische Stoffe und meistens eine irrer, bösartiger Hauptcharakter werden zur Hauptzutat, dem Ermittler, beigemengt, der nach Möglichkeit die gute Seite der nordischen Errungenschaften darstellt. Erst jetzt wird mit „Der Verrückte“ ein Frühwerk des 2015 verstorbenen Autors herausgebracht.  

Die Zutaten sind die gleichen, wie vorhin genannt, aber es ist kein Krimi, sondern ein Spannungsroman, der auf Tatsachen beruht. Nach dem 2. Weltkrieg geht Bertil Kras in ein kleines Dorf im hohen Norrland, um in einem Sägewerk Arbeit zu finden. Das Dorf hat jedoch eine schwere Bürde zu tragen: Im nahegelegenen Wald wurde im 2. Weltkrieg ein Lager errichtet, in welchem politisch Andersdenkende inhaftiert wurden, auch waren Teile der norrländischen Gesellschaft mit der politischen Entwicklung im Nazi-Deutschland gar nicht so unglücklich. Am Ende des Romans steht ein Verrückter, der das Sägewerk abfackelt. Aber war er wirklich so verrückt? Mankell nimmt sich hier bereits als 29-jähriger Zeit und Geduld, um die Geschichte schonungslos zu erzählen. Er hat bereits als junger Autor einen erstaunlich langen Atem und scheint von großer Menschenkenntnis beseelt zu sein. Es wird tatsächlich Zeit die nordische Galionsfigur abseits seinen Wallander-Krimis zu entdecken. 

 

© Vorarlberger Nachrichten, Martin G. Wanko

 

Lukas Rietzschel „Raumfahrer“, 287 Seiten, dtv

 

Henning Mankell: „Der Verrückte“, 505 Seiten, Zsolnay


Wednesday, December 08, 2021

Serien sind nicht nur im Stream en vogue, in der Literatur boomen sie ebenso.


 Till Raether schickt mit „Hausbruch“ seinen Ermittler Danowski zur Reha, an die Ostsee. Carsten Sebastian Henn macht einen weiteren hochprozentigen Krimi. 

 

Carsten Sebastian Henn hat schon seit längerem den Alkohol für sich entdeckt. Jetzt nicht im herkömmlichen Sinne, sondern literarisch. Buchreihen über Buchreihen, die um Julius Eichendorff ist die bekannteste. Seine Ermittler sind hauptberuflich Köche, Professoren und eben Hobby-Detektive. Dazu gehört dem Autor auch ein Weingut an der Mosel, er weiß also worüber er schreibt, technisch gibt es auch nichts auszusetzen. Wirklich trendy wurde er, als er mit „Gib dem Leben einen Gin”, auf den Gin-Hype aufsprang und eine Story rund um eine verschollene Gin-Rezeptur niederschrieb. Mit „Rum oder Ehre“ geht es nun, nicht schwer zu erraten, um Rum und Crime. 

 

Rum soweit das Auge reicht

Ausgangspunkt ist Flensburg in Deutschland, eine der historischen Rum-Hochburgen in Europa. Im Zentrum steht der nicht mehr so ganz fitte Martin, genannt Käpt‘n, dessen Bruder Christian, ein talentierter Rum-Blender, in seinen jungen Jahren nach Jamaika ging und seitdem als verschollen gilt. Plötzlich tauchen bei Martin Briefe seines Bruders auf, die von einem turbulenten Leben auf der Karibikinsel erzählen. Grund genug um Christian, den sie auf Jamaika alle ehrenvoll „den Professor” nennen, einen Besuch abzustatten, um zumindest seinen Spuren zu folgen - wer weiß, ob der Bruder noch lebt. Angekommen auf der Insel, wird der Käpt‘n sofort mit einer Taxifahrerin bekannt, die sich für den Aufenthalt als Chauffeurin anbietet. Das alles geschieht nicht ohne Hintergedanken, denn Martin könnte ihr Onkel sein, da ihre Mutter mit dem verschollenen Christian eine Liaison hatte. Kurz nach der Ankunft gibt es bereits den ersten Toten. 

Der Leser kommt im ersten Drittel des Romans einigermaßen ins Schnaufen, weil eben der Inhalt eingearbeitet werden muss. Vielleicht etwas viel am Tablett, aber dafür sind die Storys gut gebaut und machen jetzt auf witzige Art Lust tatsächlich einmal einen Abstecher an die Karibik, abseits der weißen Strände, zu machen. Reggae, Ska und der Mythos Rum, das mag man, oder mag man nicht. Interessant ist, dass Alkohol, verbunden mit dem Profil der Regionen, immer mehr als „bürgerliches Kulturgut“ wahrgenommen wird, das sich für Krimis sehr gut eignet. Vorbei sind die Zeiten eines Charles Bukowskis und seiner wüsten Welt, lieber spaziert man die anmutigen Wege Martin Walkers oder Alfred Komareks nach. Carsten Sebastian Henn ist bisweilen vielleicht eine Spur zu nett und praktikabel, sein Protagonist könnte ruppiger sein. Unterm Strich hat der Roman jedoch seine Momente, der Leser profitiert durch sein ausgezeichnetes Fachwissen und an manchen Bars könnten seine nicht alltäglichen Drinks und Kuchen durchaus für Abwechslung sorgen. 

 

Der Polizist in der Sinnkrise

Adam Danowski ist so ziemlich das Gegenteil von Carsten Sebastian Henns Käpt’n. Danowski ist Polizist aus Leidenschaft, besser gesagt war er das. Till Raether schickt ihn bereits das sechste Mal ins Rennen, aber es läuft nicht mehr so wirklich rund. Im fünften Fall ging so ziemlich alles schief. Hier war er 24 Stunden in der Gewalt eines entflohenen Straftäters. Der Fall ging nicht ohne Pannen ab und so befindet sich der geschundene Danowskinun auf Reha an der Ostsee. Ganz nebenbei entwickelt der Autor ein Pärchen, welches sich ebenso auf Erholung befindet. Langsam und nüchtern strukturiert, in bester nordischer Qualität, lässt er hier eine ziemlich kaputte Beziehung entstehen, wo am Ende des Tages nur die Frau überbleibt und diese geht nun zu Danowski beichten. Die Kritik meint, Danowski nähme im sechsten Fall relativ spät Fahrt auf. Aber, warum auch nicht? Ein Ermittler darf auch einmal lethargisch sein und der Autor kann diese Zeit literarisch zu Nutze machen. Till Raether schafft das sehr gut. Wer mehr Action haben will, sollte den Vorgänger „Unter Wasser“ lesen.

 

Martin G. Wanko / © Vorarlberger Nachrichten