Sunday, October 29, 2017

Vier Mal Frankreich.




Die Welt ist groß, doch Frankreich genügt die Innenansicht, nicht zu Unrecht: Julie Estève, Enfant terrible der Pariser Szene, geht mit ihrer Protagonistin, Lola, auf Männerjagd. Im gleichnamigen Roman erobert sie Männer im Nu, lässt sie jedoch sehr bald wieder fallen. So nebenbei fließt Lolas dramatische Kindheit in den Text ein und macht daraus ein Stück Borderliner-Literatur, inklusive psychologischem Background. Aber das ist nicht alles: Es wurde in der letzten Zeit selten so schonungslos und zugleich amüsant über Männer geschrieben. Sehr dichte, literarisch ansprechende Momente enden gekonnt am Höhepunkt der Geschichten und schauen danach in das dunkle Loch der Depression. Und dann kommt doch einer, der eine, der dem eher anstrengenden Treiben ein Ende setzen könnte, im positiven Sinne.
Keine Provokation

Natürlich hat man jetzt keine neue Jelinek vor sich liegen, weder „die Klavierspielerin“ noch „die Lust“ ist mit „Lola“ zu vergleichen. Bei Julie Estève fehlt das provokante Element, vielleicht auch die ernüchternde Gewalt der Elfriede Jelinek. Alleine der Mädchenname „Lola“ hätte die österreichische Autorin vermutlich zu einem Angriff gegen jegliche Erwartungshaltungen genützt. Julie Estève traut sich hier noch nicht so richtig raus. Vielleicht kommt das noch - „Lola“ ist eine gelungene Verstörung, die den Leser durchaus dranbleiben lässt und auch einen gewissen Unterhaltungswert hat. Abseits der großen Provokation ein wirklich sehr eigener Roman. 
„Balzac, Balzac!“, hört man das gebildete Paris jubilieren, wenn es um Virginie Despentes Roman „Das Leben des Vernon Subutex“ geht. So weit ist es noch nicht, aber Virginie Despentes zeichnet ein sehr präziseres Sittenbild unserer Zeit. Nach einigen Werken über Randgestalten unserer Gesellschaft, ist ihr neuer Roman eine Art Versuch über die Menschheit. Damit kommt sie in der gesellschaftlichen Mitte an und gewinnt so an Bedeutung.


Gesellschaftliches Kaleidoskop
Vernon, ein Schallplattenhändler, verliert seinen Job und schlussendlich seine Wohnung. Er bemüht nun seine gar nicht so knappe Liste an Kontakten, tingelt so von Freund zu Freund und nistet sich für einige Tage ein. Dabei heraus kommt ein Spiegelbild der Menschheit. Besonders gut gelingen Virginie Despentes die Porträts der Pariser Kulturszene, sehr böse und dennoch zum Lachen komisch. Die Autorin macht hier einen gelungen Querschnitt durch die Pariser Gesellschaft, jegliche Tabus sind ihr fremd. Leider fehlt an manchen Stellen die Stringenz, gerade wenn sich die Autorin zu sehr vom Hauptprotagonisten entfernt. Aber der Roman funktioniert und schlussendlich soll er zu einer Trilogie ausgebaut werden. Hoffentlich kann die Spannung gehalten werden.

Sowohl „Lola“ als auch „Das Leben des Vernon Subutex“ zeigen eine gewisse Vormachtstellung der französischen Literatur in Europa. Frankreich nimmt sich gesellschaftlich und kulturell nach wie vor sehr wichtig und dieses Selbstvertrauen ist auch in den Romanen festzustellen und beim Lesen nach wie vor spürbar. Hiermit muss jetzt nicht übertrieben werden, jedoch in einer Welt, die sich permanent versucht gleichzuschalten, kann der eigenständige Weg nur zum Vorteil gereichen.
Gitarre und Paris

In „Vintage“, so der Titel Grégoire Herviers Romans, geht es nicht um Mode oder Möbel, sondern um gebrauchte, edle Gitarren, genauer um E-Gitarren. Gleich zum Inhalt: Der Pariser Thomas Dupré ist vom Beruf her Gitarrenrestaurator und zugleich Liebhaber dieser Instrumente. Im Speziellen sind es E-Gitarren aus den Fifties und Sixties, die es ihm angetan haben. Eines Tages beauftragt ihn sein Chef eine der restaurierten Gitarren persönlich einem gewissen Lord Winsley nach Schottland zu bringen. Angekommen, auf dem ehemaligen Schloss von Led Zeppelin-Gitarristen Jimmy Page, weiht ihn Lord Winsley in ein Geheimnis ein: Ihm sei eine „Gibson Moderne“, eine sagenumwobene Gitarre, von der nur einige Prototypen gebaut wurden, gestohlen worden. Er beauftragt nun Thomas, für ihn die Gitarre zurückzuholen. Dafür bekommt er eine Million Pfund, sowie ein erstklassiges Erlebnis. Das Abenteuer kann also beginnen.

Abenteuerlust

Grégoire Hervier knüpft an große Abenteuerromane an, verfasst in der Tradition eines Jules Vernes, Jack Londons oder Mark Twains. Man kann diesen Roman auch als Krimi lesen: Ein gestohlenes, wertvolles Musikinstrument, ein toter Gitarrenbauer, dazu zaubert der Autor noch einige schräge Vögel auf die Bühne: Verschrobene Sammler, Millionäre mit eigenen Privatmuseen, Händler ohne Skrupel. Falls man ein Freund von Abenteuergeschichten ist, grundsätzlich an Rock-Musik interessiert ist und das Spiel zwischen Faktum und Fiktion liebt, dann ist man bei Grégoire Hervier goldrichtig.

Brutale Realitäten

Bei Édouard Louis hat die Fiktion nur begrenzt Platz. Nach seinem autobiographischen Debüt „Das Ende von Eddy“, in dem er seine Jugend als homosexueller Außenseiter bezüglich seiner intoleranten Familie und dem problematischen Umfeld seiner Schulzeit aufarbeitet, legt er nun einen zweiten Roman, „Im Herzen der Gewalt“, vor, ebenfalls autobiographisch. Dieses Detail wird hier wesentlich, wenn man den Inhalt des Buches in Betracht zieht. Hier wird der Ich-Erzähler von einem Mann vergewaltigt und mit dem Tode bedroht. Geschickt wird die Situation gezeichnet: Fiktiv lässt der Autor auch andere Personen zu Wort kommen, die dieser Geschichte unterschiedliche Perspektiven verleihen. Dazu ist das Grundthema des Autors allgegenwärtig: Eine eindringliche Stimme, die wieder und wieder feststellt, es bis hierher nach Paris, in die gesittete Welt, in die intellektuelle Schichte geschafft zu haben - und dann dies: Missbrauch und Morddrohung.

Sofern man sich diesem Roman öffnen kann, ist er wirklich sehr feinsinnig und feingliedrig und tatsächlich ein ausgezeichnetes Stück Literatur. Dass der Inhalt auch außerhalb des Feuilletons für Diskussionen sorgte, liegt vor allem daran, dass der Vergewaltiger laut Autor ein Schwarzer ist, der diese Tat bis heute bestreitet. Dennoch geht es hier nicht um Schuldzuweisungen, sondern um einen literarischen Achtungserfolg, dem man auch den zum Teil doch sehr pathetischen Stil verzeihen kann.

Martin G. Wanko (Vorarlberger Nachrichten)

 Julie Estève: „Lola“, 160 Seiten, Rowohlt
Virginie Despentes: „Das Leben des Vernon Subutex“, 398 Seiten, Kiwi

Grégoire Hervier: „Vintage“, 389 Seiten, Diogenes

Édouard Louis: „Im Herzen der Gewalt“, 216 Seiten, S. Fischer