Schon die erste Auflage vergriffen, brauchte dazu kein Weihnachtsgeschäft. |
Nach wie vor brodelt Michel Houellebecqs Literatur, aber nicht nur.
Die Gelbwesten-Bewegung mit Houellebecqs Roman „Serotonin“ in Verbindung zu bringen, ist nicht mehr als ein Marketing Gag, ihn als Visionär zu verehren, wohl eher peinlich und ebenso nicht mehr als eine verkaufsfördernde Strategie. Hätte es wahrscheinlich nicht gebraucht, der wohl größte Misanthrop seit Thomas Bernhard hätte auch so den Weg in die Bibliotheken literaturinteressierter Menschen gefunden. Einmal mehr schickt der französische Autor als Hauptfigur einen Regierungsbeamten ins Rennen, um die Welt nicht zu retten, sondern mit ihr unterzugehen. Der König der Provokation hat es wieder einmal geschafft, das Feuilleton in hellste Aufregung zu bringen. Warum eigentlich?
Der müde Rebell
In einem sehr massiven Roman scheitert der Hauptprotagonist Florent-Claude an sich selbst. Dieses Mal kommt er zwar über das detailreich dargestellte Sexualleben zur reinen Liebe, aber will man das bei dem französischen Ex-Rebell wirklich? Sein Bauernaufstand ist jetzt auch nicht zwingend neu, dennoch schreibt er alles so wunderbar verdichtet. Das macht ihn eigentlich aus, das ist verblieben, aber den wahren Puls zur Zeit spüren bereits andere auf. Beispielsweise Frederika Amalia Finkelstein.
Die junge französische Autorin schreibt einen Roman über mehr als nur ein ungutes Gefühl. Finkelstein beschreibt das Leben eines Menschen, der die Änderung der letzten Jahre bezüglich des Terrors in Frankreich fokussiert. Sich über das Unfassbare Gedanken zu machen, scheint ihr Auftrag zu sein. Ihr Hauptcharakter, eine Jugendliche, lässt die Terror-Akte der letzten Jahre in ihre Gedankenwelt sickern. Diese permanente Behandlung gibt den anonymisiert Gestorbenen ein Gesicht. Naturgemäß ist das Lesen eines solches Textes nicht einfach, geschweige denn zu schreiben. Finkelstein hat hier einen hochkomplexen Weg gefunden, um dennoch so etwas wie Literatur entstehen zu lassen. Mit einem relativ bescheidenen Inhalt beschreibt sie Alltagssituationen der jungen Frau, die Wege zur Arbeit, ihren Arbeitsplatz sowie eine Reise. Und dazu eben das Bild in den Straßen, welches sich seit den Terroranschlägen geändert hat. Soldaten patrouillieren, Polizisten reagieren nervös, die Bevölkerung hat unterschwellig Angst.
Darf man das?
Die eigentliche Geschichte beginnt mit den Terror-Anschlägen auf das Bataclan-Theater am 13. November 2015. Aufs Genaueste schildert die Autorin die Fotos aus den Medien mit den entstellten Personen, fast schon in der Präzession eines Wandgemäldes aus der Renaissance. Natürlich anonymisiert, aber eben im Detail beschriebene Leichen nach einem Terroranschlag erzeugen eine eigenartige Stimmung. Man kann es sich leicht machen: Eine Psychose der Ich-Erzählerin ist schnell analysiert, doch das ist nicht der Punkt: Die Frage, um die sich alles ringt ist, ob es zulässig ist, die Geschehnisse auf diese Art zu thematisieren. Darf man das? Bilder, die zum kollektiven Bewusstsein gehören, dürfen auch Teil eines Kunstwerks sein. Ist es eine Provokation? Ja und nein. Als Hinterbliebener ist der Roman schwer zu ertragen, für einen Außenstehenden ist dieser Roman von äußerster Wichtigkeit. Bei aller Realität erfahren die detailreiche Schilderung der unverzeihlichen Taten doch eine künstlerische Veränderung und zollen den Opfern Respekt.
Martin G. Wanko
(Erstabdruck: Vorarlberger Nachrichten 2019)
Michel Houellebecq: „Serotonin“, DuMont, 334 Seiten
Frederika Amalia Finkelstein: „Überleben“, Suhrkamp, 146 Seiten
No comments:
Post a Comment