Thursday, October 28, 2010

Morde und andere Kapitalverbrechen.

Richard Thiess & Ferdinand von Schirach: Die Wirklichkeit zwischen zwei Buchdeckel geknallt

Aus der Wirklichkeit erzählen, den schroffen Alltag in der Mordkommission in bekömmlichen Portionen zu verabreichen, ist mittlerweile sehr schick geworden und gewährt dem Leser einen Einblick, wie es abseits der Fiktion zugeht. Das Vorbild dieser Non-Fiction-Storys ist der psychologische Tatsachenbericht „Die Seele des Mörders“ vom FBI-Profiler John Douglas, der Thomas Harris zum „Schweigen der Lämmer“ inspirierte und so das Genre Psycho-Schocker-Roman stubenrein machte. Fast schon christlich liest sich hier die Tatsachenberichte-Sammlung des Kriminalhauptkommissars Richard Thiess in der Mordkommission München.

Die Phantasie bleibt gefragt.

Kriminalhauptkommissars Thiess gibt Einblick in die Polizeiarbeit und lässt die ganzen Schrullen beiseite, die Kriminalroman-Autoren den Kommissaren sehr gerne andichtet. Dafür geben seine Fälle einen vielseitigen Blick hinter die Kulissen ab, die den Leser um einiges gescheiter werden lassen. Die Fälle sind zum Glück ziemlich neu, also sowohl Internet- als auch DNA-tauglich, und der Hauptkommissar beschönigt auch nichts, gibt Fehler in der Polizeiarbeit zu, auch wenn sie das Mordkommissariat betreffen. Vom Fachlichen her ist Kriminalhauptkommissar Richard Thiess sicher eine Koryphäe, dramaturgisch hätte man ihm dann und wann einen Ghostwriter zur Seite stellen sollen, da einige Berichte einfach ein bisschen zu hastig ausfallen und die Bilder nur erschwert im Kopf des Lesers entstehen können. Fazit: Die meisten Morde die tatsächlich passieren, sind relativ simpel und durchaus nachvollziehbar. Der ausgeklügelte Mord bleibt der Phantasie der Literaten vorbehalten.

Zum Mitfühlen und Nachdenken.

Nun, während Richard Thiess die Kapitalverbrechen aus einer polizeiinternen Sicht erzählt, schreibt sie Ferdinand von Schirach aus der Sicht eines Strafverteidigers. Ferdinand von Schirach kommt aus einer für Deutschland sehr wichtigen Familiendynastie, die immer wieder Persönlichkeiten hervorbrachte. Und dennoch überschattet seit drei Generationen eine Person das Familiengeschehen: Baldur von Schirach war im 2. Weltkrieg der Gauleiter und Reichsstatthalter von Wien und so für die Deportation der Wiener Juden hauptverantwortlich. Baldur von Schirach wurde auch nach dem 2. Weltkrieg verurteilt, aber natürlich, der düstere Schatten haftet auf der Familie. Vielleicht ist das eine Ursache, dass Baldurs Enkel Ferdinand von Schirach sich als Strafverteidiger und Autor immer wieder mit den Themen Verbrechen und Gewalt auseinandersetzt. In seinem kurzgeschichtenartigen Buch „Schuld“ behandelt von Schirach Fälle, die er als Strafverteidiger miterlebte. Die Geschichten lassen den Leser schweigend zurück. Um dieses Schweigen zu beenden, stürzt man sich die nächste Kurzgeschichte. So einfach die Sprache gehalten ist, so nüchtern, so klar, fast schon nebensächlich, so zwingend sind die Inhalte. Nach der letzten Geschichte schweigt man für eine längere Zeit. Warum so viel Gewalt? Ferdinand von Schirach lässt die Antwort offen. Vielleicht will er, dass wir mit ihm nachdenken.

Wa.

3 comments:

reich-ranicki said...

wobei meiner bescheidenen meinung nach schirachs erstes buch deutlich besser war und die suppe teilweise nun schon etwas dünn geraten ist.

Karasek said...

... ja, aber trotzdem, er hat einen eigenen Stil.

Ihr Hellmuth Karasek.

Reich-Ranicki said...

einen eigenen stil hat bald wer. als kenner der österreichischen literatur würd ich empfehlen, dass sie sich den Herrn Drach ansehen. Der schrieb schon lange vor Herrn von Schirach in diesem Stil: http://de.wikipedia.org/wiki/Albert_Drach

Ihr Reich-Ranicki